S1 Richtung Oranienburg. Mitte Zwanzig, mittleres bis gehobenes Bildungsniveau, männlich, Mountainbike auf drei Sitze verteilt, Mobiltelefon am Ohr.
"Wie es so geht?" [..]
"Tja, scheiße gelaufen. Ein Paradebeispiel dafür, dass es auch mit Kondom schieflaufen kann. Ich hab kein Loch gesehen, aber irgendwie muss da was rausgelaufen sein. Die Kleine ist fit, fängt jetzt an zu krabbeln. Nee du, die Olle schläft jetzt bestimmt schon."
Es ist einer dieser Tage, an denen ich mir schwöre, nie mehr morgens meinen MP3-Player zu Hause zu vergessen. Nicht, weil ich auf Musik angewiesen wäre, sondern, weil ich mich damit wenigstens für eine halbe Stunde vom Leben des jungen Mannes im Fahrradabteil hätte abschotten können. So genau wollten wir es alle gar nicht wissen, aber mit einer Mischung aus Schrecken und Faszination an den tiefen Einblicken hören wir gebannt weiter zu:
- Ein Kumpel hat Diabetes, aber "er hat das ja auch so lange schleifen lassen". Und jetzt erzählt er immer davon, dass er sowieso bald sterben wird.
- Dem anderen Kumpel ist die Mutter schon weggestorben, Oma ist als nächstes dran.
- Irgendwann verabschiedet er sich von seinem Gegenüber und ich glaube, doch noch in Ruhe mein Sudoku im Tagesspiegel fertigmachen zu können. Da ruft er auch schon den nächsten an: "Hi, ich wollte mal einfach so quatschen. Ich sitz gerade in der S-Bahn und das ist so langweilig." Vorbei ist's mit der Konzentration.
- Und weiter geht der Parforceritt durch Freundschaft und Bekanntschaft: "Du, dem schulde ich noch Geld, aber der soll sich nicht so haben, ich hab ihm schon ein Drittel zurückgezahlt. Ich hätte auch meinen Anwalt einschalten können, sein Anwalt hat da nämlich viel zu hohe Zinsen angesetzt. Soll froh sein, dass er überhaupt was kriegt."
Als ich an meiner Destination endlich den Wagen verlassen darf, dröhnt mir der Schädel und ich frage mich, wo die Zeiten hin sind, wo du dich schon spät abends in eine Kneipe setzen musstest, um einmal etwas aus dem Leben eines anderen Menschen zu erfahren.